Kunst mit offenen Grenzen
Zur Arbeit von Maren Ruben

Am Anfang steht meistens ein Bogen Papier, mal dicker, mal dünner, mal ist es Transparentpapier, mal Reispapier, seltener kommt Stoff zum Einsatz, vielleicht mal ein Stück Tüll. Maren Ruben hat ein Gespür für Papier entwickelt, ähnlich wie ein Fotograf für das Licht oder ein Bildhauer für seinen Stein. Die Haptik des Papiers spielt eine Rolle, dessen Konsistenz, Rauheit, Geschmeidigkeit. Was sie dann mit dieser reinen weissen Fläche – vielleicht ist sie mal gemasert, getönt, die Struktur ändert sich – macht, ist mit Worten nicht so einfach zu beschreiben. So wie es letztlich auch ein Unfassbares bleibt, wie aus einem Block Marmor eine Skulptur hervorgeht oder Licht sich als chemische Reaktion in die fotografische Schicht einschreibt. Maren Ruben zeichnet, könnte man sagen: Aber ihre Zeichnungen bilden nichts ab, sondern bäumen sich auf und werden zu etwas, das an Gemälde, Skulptur und Installation grenzt. 

Zeichnen ist, was Maren Ruben macht insofern, als sie Striche und Linien auf Papier setzt. Diese Linien und Striche aber entstehen aus Schnitten und Rissen mit Schere und Messer und von Hand, aus Faltungen, Überlagerungen, Auslassungen und Verwerfungen: Die Geschlossenheit des Papiers löst sich fransig, fedrig, haarig auf, das Blatt bleibt nicht in der Fläche, sondern wechselt die Dimension, wird in einen plastischen Zustand überführt und verwandelt sich in etwas anderes, was sich nicht eindeutig benennen lässt. Die Grenzen dieser Kunst bleiben offen, nachdem die Gegebenheiten – eine durch ein Format bestimmte Fläche – erst einmal ausser Kraft gesetzt wurden.

Zur Zeichnung kommt die Malerei. Mit Leichtigkeit setzt Maren Ruben mit Bleistift, Farbstift, Kreide, Aquarell und anderen Pigmenten Strukturen dergestalt auf den Grund, dass ein grenzenloser Prozess von Ähnlichkeitssehen und Sinnestäuschung einsetzt: Federn meint man zu erkennen, Perlmutt, Felle, abgestreifte Haut, Achate, Frost, Leder, Rinde. Kaum ist mehr zu auszumachen, was gemalt und was geformt ist, wo Tiefe nur Illusion ist und ein Element in ein anderes übergeht. In aller Einfachheit, aber mit höchster technischer Raffinesse treibt Maren Ruben mittels Punkten und Strichelungen, Schraffuren und Lasuren Artefakte hervor, die in ihrer Filigranität an Bildhauerei denken lassen, an das plötzlich hervorschiessende hauchdünne Blattwerk von Bellinis Apoll und Daphne etwa; schimmernde Oberflächen wirken wie die zum Greifen echt gemalten Textilien – Seide, Musselin, Taft – der niederländischen Genremalerei. Die Werke streben allerdings nicht nach Einheit und Vollkommenheit, Allegorie oder Harmonie; sie wollen nicht ein wie auch immer zu bestimmendes Ganzes zeigen, die grosse Geschichte, die Parabel, eine Moral. Das Fragment, die Impression, das Spiel mit Nah- und Fernsicht und das Kräfteverhältnis von Ausdehnen und Komprimieren sind viel wichtiger. In diesen Gebilden sind die Werkstoffe die Hauptdarsteller – sie zeigen sich in verschiedenen Stadien der Verwandlung. 

Die Assoziationsketten, die sich in der Betrachtung von Maren Rubens Kunst einstellen, sind endlos und wechseln vom Archaischen zum Artifiziellen, vom Organischen zum Synthetischen. Wie so oft hinkt die Sprache dem eigentlich zu Benennenden hinterher:  Was sich in der unmittelbaren Anschauung und im Erleben intuitiv erschliesst, ist mit Worten nicht ganz stimmig einzuholen. Das trifft nicht nur auf die Kunst von Maren Ruben zu, aber diese Kunst ist ganz besonders immun gegen jede Art von Fest- und Zuschreibung. Helfend stehen die Titel den Arbeiten zur Seite, ihrerseits Worte: Diese sind wie eine Antwort auf das eigentliche Werk – wie eine zweite Stimme, die als etwas einsilbiges Orakel eine Bestimmung ausspricht: Flügel zum Gehen, Schneeland, L’amant, Wendekreis I. Maren Ruben ist auch Wortkünstlerin, sie verknappt Sprache mit Begriffen zu Dingen, die ans Unsagbare grenzen und das Unvorstellbare aufzeigen. Die Werktitel schlagen eine Art Brücke zu einem Landungssteg, der am ständigen Fluss des Formsuchens ein Innehalten ermöglicht. Dieses feste Ufer ist nicht zuletzt die Wand, der Boden und der Raum um das Werk herum, wo dessen Wirkung sich ausbreitet, ähnlich einer Pionierpflanze, die sich auf Neuland ansiedelt und etwas entstehen lässt.

Isabel Friedli, im April 2018 
(Kunsthistorikerin M.A.; Kuratorin Schaulager Basel)  

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